Erschienen in der „Freien Presse“ in der Kategorie „Panorama“ - Ausgabe Samstag, 3. März 2018

Freie Presse

Der schwere Weg weg vom Glas

Alkohol ist ein Geschäft: 3,2 Milliarden Euro nahm der deutsche Staat 2016 an Steuern allein für die Herstellung ein. Alkoholsucht ist eine Krankheit: Acht Millionen Deutsche sind betroffen schätzt der Suchtberater Rolf Bollmann, der seit 25 Jahren keinen Tropfen mehr trinkt. 

Drei Jobs, zwei Ehen, 14 Autounfälle und einen Selbstmordversuch hatte er hinter sich, als er vor dem Entzug stand, der Rolf Bollmanns letzter werden sollte. Heute ist der deutsche Ex-Manager trocken. Er lebt auf Mallorca. Dort bringt er Alkoholikern bei, wie sie ihre Unkontrolliertheit kontrollieren können.

Von Grit Strietzel

PALMA – Mallorca. Das ist der Deutschen liebste Sonneninsel. Ein Eiland der wahren Klischees: Hier fließen Bier und Sangria schon vor dem Mittag. Doch etwas abseits der Ballermann-Strände mit Promillegarantie liegt im Landesinneren eine mallorquinische Finca, auf der es keinen Alkohol gibt. Männer und Frauen – meist 40 und 50 plus – wollen eine Krankheit besiegen, die Rolf Bollmann „für die häufigste in Deutschland“ hält. „Es gibt acht Millionen Alkoholkranke in der Bundesrepublik“ sagt der 77 jährige, der seit 25 Jahren trocken ist und auf der Mittelmeerinsel seit mehr als einem Jahrzehnt Patienten den Weg in ein promillefreies Leben aufzeigt.

Es ist Nachmittag, die Sonne scheint, der Himmel ist blau. An einem Holztisch sitzen zwei Männer und zwei Frauen. Gruppensitzung. Rolf Bollmann kommt dazu. Er führt die Runde, denn er hat es geschafft – aus Sicht der anderen. Das Wie ist die große Frage, welche die Anwesenden umtreibt. „Es ist eigentlich einfach: Lasst immer das erste Glas stehen“, sagt Rolf Bollmann und schmunzelt. Dann wartet er ein paar Sekunden, damit jedem in der Gruppe der Sinn dieser Worte bewusst wird. Nun beginnt er mit seiner Therapie, die nur auf eines abzielt: Ehrlichkeit zu sich selbst.

Rolf Bollmann kennt alle Tiefen, die die Alkoholkrankheit den Betroffenen bringt – den Selbstbetrug, dass man alles im Griff hat und jederzeit mit dem Trinken aufhören könnte, die Selbsterkenntnis, dass dem nicht so ist – und die oft jahrelange Suche nach einem Weg aus der Sucht. Drei Jobs, zwei Ehen, 14 Autounfälle, einen Selbstmordversuch und einige Entziehungskuren hatte Rolf Bollmann schon hinter sich, als er den Entschluss fasste, mit dem Trinken aufzuhören. Da war er pleite, arbeitslos und wog noch 51 Kilogramm bei 1,80 Meter Größe.

Alkohol ist in Deutschland vor allem ein Geschäft: 3,2 Milliarden Euro nahm der Staat 2016 allein an Steuern für die Herstellung von Bier, Wein, Sekt und Schnaps ein. Da sind die 19 Prozent Mehrwertsteuer beim Verkauf noch nicht eingerechnet. Doch Alkohol ist medizinisch gesehen ein Gift, welches die Zellen schädigt. Bei regelmässigem Konsum steigt deshalb auch das Krebsrisiko Statistisch gesehen stirbt alle sieben Minuten ein Mensch in Deutschland, weil der Alkohol Leber und Bauchspeicheldrüse, Rachen, Magen und Darm oder das Herz-Kreislauf-System geschädigt hat, rechnet die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen vor.

Der Verein mit Sitz in Hamm (Westfahlen) wurde 1947 gegründet, um allen iin der Suchtkrankenhilfe bundesweit tätigen Verbänden und gemeinnützigen Vereinen eine Plattform zu geben. Offiziell spricht man in der Bundesrepublik von 1,3 bis 2,5 Millionen Alkoholkranken. Doch diese Zahl hält Rolf Bollmann für falsch. Denn sie entspricht nur einem Anteil von 3,5 Prozent der Bevölkerung zwischen 18 und 64 Jahren. In anderen europäischen Ländern wie Österreich oder der Schweiz liegt der Prozentsatz laut Statistik bei rund 7,5 Prozent.

Umfängliches Zahlenmaterial zur Problematik gibt es nicht. Die Krankenkassen bewilligen bei der Alkoholkrankheit eine „klinische Entgiftung“. So heißt es, wenn jemand im Krankenhaus unter Aufsicht einen Entzug macht. 5700 Entgiftungen genehmigte die AOK plus in Sachsen im vergangenen Jahr. Die Kosten beliefen sich auf 24 Millionen Euro. Wenn der Patient „trocken“ ist, erfolgt zeitnah die sogenannte Entwöhnungsbehandlung – also jene Therapie, bei der die Patienten lernen sollen, nie wieder ein Glas Alkohol zu trinken. Diese – in der Regel zwölf Monate dauernde – Behandlung können sowohl die Kassen als auch die Deutsche Rentenversicherung bewilligen.

Rolf Bollmann machte in einer Entgiftungseinrichtung in Miami in einem Schlafsaal mit 28 Betten seinen letzten Entzug. Dort erkannte er, dass sein Leben mit Alkohol nicht weitergehen würde. „Ich musste mich entscheiden“. Am 28. April 1992 begann sein zweites Leben – nach dem Entzug ging er zu den Anonymen Alkoholikern, am Anfang dreimal täglich.

Die „AA“, wie sie in den USA kurz genannt werden, gibt es seit 1935. Die weltweit agierende Selbsthilfeorganisation arbeitet nach einem 12-Schritte-Programm, das darauf basiert, dass der Einzelne die Alkoholkrankheit nicht aus eigener Kraft, sondern nur mit Hilfe spiritueller Erfahrungen besiegen kann. „Ich möchte vermitteln, dass Nüchternheit zu einem erstrebenswerten Leben führt, das von nichts übertroffen werden kann“, so beschreibt Bollmann seine Intention.

Diese Erkenntnis lebte er. Als er aus den USA zurückkam, begann der ehemalige Manager offen über seinen Weg aus der Sucht zu reden. Er schulte Führungskräfte in Unternehmen, wie man Alkoholismus im Berufsalltag erkennen und welche Angebote man den Mitarbeitern machen kann. Für sein Engagement wurde er 2003 von Bundespräsident Johannes Rau ausgezeichnet.

Doch sein Traum blieb eine eigene Anlaufstelle für Alkoholkranke – die Finca Esperanza, sein „Haus der Hoffnung“. Und so brachte er das Konzept der Anonymen Alkoholiker auf die Baleareninsel Mallorca. In 28 Tagen lernen die Patienten jene zwölf Schritte, nach denen die „AA“ leben. Doch es ist noch etwas mehr, was Bollmann vermittelt: Authenzität. Er kann alle Fragen beantworten, die Alkoholkranke beschäftigen: Wie verhalte ich mich, wenn mir Alkohel angeboten wird? Wie kann ich den Schaden in der Familie wiedergutmachen? Was tue ich, wenn das Verlangen nach einem Schluck kommt?

Auf der Insel mit dem blauen Himmel und der Ruhe vor dem Alltag stellen sich die Betroffenen nicht nur der Sucht, sondern sie erkennen ihren oft langen Weg in diese Krankheit – schleichend, über Jahre, immer ein Stück mehr. In Einzel- und Gruppengesprächen werden die Lebenswege aufgearbeitet die alle unterschiedlich sind und sich doch am Ende gleichen: „Der Alkohol wurde zum täglichen Begleiter, zum Tröster in Konflikten und zum Bezwinger der eigenen Angst“, so bringt es Rolf Bollmann auf den Punkt.

Alkohol ist mitverantwortlich für mehr als 200 Krankheiten. Vor allem Jugendliche rücken durch das sogenannte Komasaufen in regelmäßigen Abständen in den Fokus der Öffentlichkeit. Die Barmer fand in einer Studie mit 8,5 Millionen Versicherten heraus, dass zwischen 2012 und 2015 die Zahl der Behandlungen wegen riskanten Alkoholkonsums um 2,2 Prozent anstieg. Besonders auffällig sei, dass rund ein Viertel aller Alkoholabhängigen zwischen 50 und 59 Jahren alt ist.

Auch Rolf Bollmann weiß, dass der Alkoholkranke längst nicht nur ein Obdachloser ist, der alles verloren hat. Alkohol zu trinken sei gesellschaftlich anerkannt, und gerade bei Menschen, die mit beiden Beinen im Job stehen, bestehe lange die Möglichkeit, einen übermäßigen Konsum problemlos zu kaschieren. Sein Therapiekonzept, auf Mallorca in 28 Tagen an einem Ort der Ruhe und Meditation einen Neuanfang zu starten, biete jenen Betroffenen Hoffnung, die in absoluter Diskretion den Start in ein Leben ohne Promille schaffen wollen.

Der 77-Jährige erzählt an diesem sonnigen Nachmittag nicht nur etwas über die verschiedenen Trinkertypen – Spiegeltrinker, Quartalssäufer, Rauschtrinker. Er erzählt auch etwas über Meos, einen körpereigenen Mechanismus, der dafür sorgt, dass trockene Alkoholiker beim ersten Schluck wieder in die Suchtschleife geraten. Das kontrollierte Trinken als Ziel, das wird oft von seinen Patienten gewünscht, doch dem erteilt der suchterfahrene Bollmann immer eine klare Abfuhr. „Wir Alkoholiker sind Männer und Frauen, die die Fähigkeit verloren haben kontrolliert zu trinken“.

Er selbst sagt, er kämpfe nicht gegen die Sucht. „Ein Kampf kostet viel Kraft, und man kann ihn verlieren. Ich habe mich für ein nüchternes Leben entschieden, friedvoll, im Einklang mit mir selbst.“ Das funktioniert seit mehr als einem Vierteljahrhundert. Und das wollen alle Gäste der Finca Esperanza. Doch wie viele schaffen es? Bei der Frage schüttelt Rolf Bollmann den Kopf er mag die Frage nach der Erfolgsquote nicht: „Was ist denn eine erfolgreiche Therapie – wenn jemand ein Jahr trocken bleibt oder zehn Jahre?“ Lebenslange Abstinenz sei die einzige Antwort. Rückfallquoten von 70 bis 90 Prozent im ersten Jahr lauten Schätzungen, eine exakte Erhebung gibt es nicht. Rolf Bollmann sind solche Zahlen nicht so wichtig. „Ich helfe, weil ich selbst weiß welche Qualen Alkoholiker durchleiden – Zweifel, Selbsthass, Versagensangst.“ Wer nach Mallorca fliegt, um ein Leben ohne Alkohol zu beginnen, der muss das aus eigener Tasche bezahlen. Doch Bollmann sagt: „Die Fähigkeit, nach und nach wieder in Frieden, Freude und Selbstliebe leben zu können – dies bleibt einfach unbezahlbar.“

Ich helfe, weil ich selbst weiß welche Qualen Alkoholiker durchleiden – Zweifel, Selbsthass, Versagensangst.