„Fast hätte ich mich totgesoffen”

Von Eva Buchhorn (manager magazin)

Ein Mann verfällt dem Alkohol: Die Sucht ruiniert seine Karriere und schließlich sein ganzes Leben. Eine wahre Geschichte aus der Führungsetage eines Chemiekonzerns.

Rolf Bollmanns (72) süchtiges Leben überdauerte drei Jobs, zwei Ehen, 14 Autounfälle, einen Selbstmordversuch und ungezählte Entziehungskuren. 20 Jahre lang nahm der Marketingmanager eines großen US-Unternehmens die Welt nur durch einen Schleier von Bier, Rotwein und Tabletten wahr.

Als Bollmann den Entschluss fasste, mit dem Trinken aufzuhören, war er pleite, arbeitslos, wog noch 51 Kilo und verdämmerte seine Tage in einem vermüllten Apartment in Caracas, Venezuela.

Irgendwann stieg aus der Tiefe seines drogenzerfressenen Hirns die Erkenntnis auf, dass er an einem Punkt angelangt war, „an dem der Mensch nur noch zwei Wege hat – entweder 1,80 Meter unter die Erde oder weiterleben.”

Rolf Bollmann entschied sich fürs Weiterleben. Er ließ sich, wieder einmal, in eine Entgiftungsklinik einweisen. Nach der Entlassung schloss er sich einer Selbsthilfegruppe an, die er anfangs dreimal am Tag besuchte: „Die hat mir den Arsch gerettet.”

Selten ist ein Manager bereit, den langen Leidensweg seiner Sucht so offen und detailreich zu schildern wie Rolf Bollmann. Die Krankheit wird normalerweise verheimlicht, aus Angst vor der Häme der Kollegen, aus Furcht vor dem Verlust des Jobs.

So wagt denn auch keiner zu schätzen, wie viele Führungskräfte wirklich süchtig sind. Fest steht nur: Jeder zwanzigste Mitarbeiter deutscher Unternehmen, vom Manager bis zur Putzfrau, ist alkohol- oder medikamentenabhängig.

20 Prozent aller Männer im besten Vorstandsalter schlucken psychoaktive Medikamente: Schlafmittel, Beruhigungsmittel Appetitzügler, Aufputsch- oder Schmerzmittel. Bei zehn von hundert Führungskräften gehen Ärzte von riskantem Alkoholgebrauch aus. Diese Menschen sind nicht süchtig, schaden aber ihrem Körper.

Nicht jeder Manager, der regelmäßig ein Glas zu viel trinkt, läuft Gefahr, so tief abzustürzen wie Rolf Bollmann. Dennoch: Männer und Frauen in den oberen Etagen gelten unter Experten als Risikogruppe. Der Grund: Sie können ihr Problem eher verbergen und bleiben daher länger im Teufelskreis der Sucht gefangen.

„Eingesponnen wie in einen Kokon”

„Je höher einer in der Unternehmenshierarchie steht, desto unwahrscheinlicher ist es, dass er frühzeitig Hilfe bekommt”, sagt Bernd Sprenger, Chefarzt der auf die Behandlung abhängiger Führungskräfte spezialisierten Oberbergklinik im brandenburgischen Wendisch Rietz.

Auch Rolf Bollmann gelang es lange Jahre, seine Abhängigkeit zu verheimlichen. Er tat alles, um Schein und Status zu wahren. Und mit jedem Tag taumelte er näher an den Rand des Abgrunds. Am Anfang seiner Karriere, Bollmann war damals Mitte 30 und führte die Tochtergesellschaft seines Unternehmens in Venezuela, trank er, weil es dazugehörte. Beim Business Lunch stand wie selbstverständlich der „Bullshot” auf dem Tisch, eine Mischung aus Rindsbouillon und Wodka.

Abends begrüßte ihn die Hausangestellte mit einem kühlen Gin Tonic. Später, Bollmann hatte mittlerweile seinen vierzigsten Geburtstag hinter sich und als Marketingmanager in die Europa-Zentrale nach Brüssel gewechselt, trank er, weil er ohne konstanten Alkoholpegel nicht mehr arbeiten konnte. Jederzeit an den Stoff heranzukommen, war kein Problem. Gute Restaurants gab es in der Umgebung dutzendweise, die halbe Firma ging auswärts essen.

Dann kamen die Jahre, in denen es Bollmann nicht einmal mehr bis zum Mittagessen ohne Alkohol aushielt. Schon am Vormittag verschwand er aus dem Büro und schlich sich in den Supermarkt, um seine zitternden Hände mit einem Schluck aus der Schnapsflasche zu beruhigen.

Natürlich wusste seine Sekretärin, was los war. Sie brachte den Kaffee, roch seine Fahne, sagte nichts. Was hätte sie auch sagen sollen?

„Süchtige Manager”, so der Psychologe und Coach Reinhard Fuchs, „werden von ihrem Umfeld oft eingesponnen wie in einen Kokon.” Fuchs hat es immer wieder erlebt: Die anderen schauen weg, schweigen, leugnen: „Untergebene trauen sich nicht, das Problem anzusprechen. Den Vorgesetzten ist die Sache peinlich. Und die Kollegen nutzen die Schwäche des Abhängigen für ihre eigene Karriere.”

In Bollmanns Fall wurden die Vorgesetzten erst aktiv, als sich die Beschwerden von Mitarbeitern häuften und verunsicherte Kunden über die abrupt wechselnden Stimmungen des Managers klagten. 1987 legte ihm der Vorstand einen Klinikaufenthalt nahe.

Folgsam ging Bollmann in die Entgiftung, saß auch die Zeit in der Rehabilitation ab, fühlte sich bestens und kehrte an seinen Arbeitsplatz zurück. Vier Monate hielt er durch, dann fuhr er mit seiner Frau in den Urlaub nach Italien: „Wir saßen im Sonnenuntergang auf der Hotelterrasse, und ich sagte: ‘Das ist alles so wunderschön hier, da kann ein Gläschen Rotwein nicht schaden.’” 

„Der permanente Selbstbetrug”

Trotz weiterer Entgiftungen und Rückfälle durfte Bollmann im Unternehmen bleiben, vier lange Jahre. Strafversetzt, degradiert, das schon – doch gefeuert wurde er nicht.

Warum? Weil er gebraucht wurde. Er sprach fünf Sprachen, konnte mitreißend präsentieren, lieferte brillante Ideen und arbeitete ohne Rücksicht auf Wochenende und Feierabend. Dass er immer mehr Zeit im Büro verbrachte, um wirr geratene Konzepte zu überarbeiten oder Krankheitstage wettzumachen – das war tragisch, aber im Grunde doch Privatsache.

Bollmann selbst hielt sich ohnehin nicht für süchtig. Hinweise übersah er: Die Diagnosen der Ärzte, die er wegen Magenbeschwerden aufsuchte, waren klar und deutlich – nicht für Bollmann.

In die Klinik ging er, „weil andere es wollten”. Und wenn sich doch ein leiser Zweifel ins Bewusstsein zwängte, reduzierte er sein Problem darauf, dass sein Körper das Trinken vielleicht nicht so recht vertrüge.

Dem konnte er abhelfen: „Dagegen, sagte ich mir, gibt es ja Entgiftungen.”

Er habe stets geglaubt, sein „Leben mit kühlem Kopf und Willenskraft steuern zu können”, sagt Bollmann. Dass er gegen eine kleine Flasche machtlos war, wollte er sich nicht eingestehen.

Heute weiß er, dass er sich permanent selbst betrogen hat. Und er hat gelernt, dass Intelligenz und Willensstärke einem Menschen helfen können, seine Sucht zu bewältigen. Die Erkrankung verhindern können sie nicht.

Süchtig – Mediziner sprechen von Abhängigkeit – ist nach einer gängigen Definition der Weltgesundheitsorganisation, wer sein Verlangen nach einer Droge nicht mehr kontrollieren kann und auf den Entzug mit körperlichen Beschwerden reagiert.

Wie es zum Kontrollverlust kommt, wie das gefährliche Wechselspiel aus Drogeneinnahme und Entzug, aus Verlangen und Scham in Gang gesetzt wird, warum der eine in die Abhängigkeit rutscht und der andere nicht – an den Antworten versuchen sich Wissenschaftler seit Jahrzehnten.

Mit mäßigem Erfolg. Der Weg in die Sucht bleibt ein Mysterium. Es gibt keine typischen Lebensumstände, sozialen Verhältnisse oder Erlebnisse, die einen Menschen abhängig machen. „Man wird es eben, es ist ein schleichender Prozess”, sagt Brigitte Mugele, Suchtmedizinerin am Erlanger Klinikum am Europakanal.

In einem Punkt sind sich die Fachleute jedoch einig: Eine Suchterkrankung hat mit der Seele zu tun; zu Grunde liege stets ein emotionaler Konflikt, sagt Oberberg-Chefarzt Bernd Sprenger: „Jeder Mensch hat eine bestimmte Kapazität, Probleme zu bewältigen. Zu starke Belastungen können krank machen – eine mögliche Reaktion ist Sucht.” 

„Mein Weg in die Gosse”

Welcher Art die Belastung ist, das variiert von Mensch zu Mensch. Sprenger hat einen Manager behandelt, der seine Anführerrolle nüchtern nicht spielen konnte. Ein anderer Patient verkraftete nicht, dass er im eigenen Unternehmen massiv Arbeitsplätze abbauen musste. Ein dritter fühlte sich von Kollegen und Vorgesetzten ausgebremst.

Rolf Bollmann setzten übermäßige Ansprüche an sich selbst unter Druck und Angst, ihnen nicht gerecht zu werden. Beides ließ sich mit Alkohol bekämpfen, das hatte er schon als Kind erfahren: Seine Mutter, eine gefeierte Operettenschauspielerin, traute sich nüchtern nicht auf die Bühne.

Die Angst vor dem Versagen packte Bollmann, als er nach dem BWL-Studium in den USA ins Berufsleben startete. Er erhielt einen Job als Produktmanager in New York, heiratete, wurde Vater. Seine Familie sah er kaum, weil er ranklotzte wie ein Besessener. „Ich wollte unbedingt Karriere machen, Zahlen bringen, aufsteigen.”

Ohne grenzenlose Einsatzbereitschaft bliebe ihm der Erfolg versagt, glaubte er: „Ich dachte immer, wenn ich dies oder jenes nicht mache, ist vielleicht die Karriere im Eimer.” Alkohol war damals schon dabei: „Als guter Freund, der mich den Druck nicht mehr fühlen ließ.”

1977 wurde er als Landesgeschäftsführer nach Caracas geschickt. Eine tolle Chance, einerseits. Doch im Grunde war er mit dem Wechsel in das politisch instabile und kulturell fremde Land überfordert.

Er fürchtete sich vor Straßenüberfällen, vor Einbrüchen, vor der Entführung seiner Familie. Er saß in seiner Firmenvilla, Gitter vor dem Fenster, hörte die Schritte der ums Grundstück patrouillierenden Wächter – und geriet in Panik.

Überdies entpuppte sich der Job bald als Himmelfahrtsmission: Die Direktoren in New York hatten überzogene Umsatzziele gesetzt. Es war falsch, damals durchzuhalten, sagt Bollmann rückblickend: „Jeder normale Mensch hätte gesagt: No way, das ist nie zu schaffen.”

Er arbeitete rund um die Uhr. Erreichte die Vorgaben. Und soff. Wein, Wodka, Kognak. Bald brauchte er Valium, um jeden einzelnen Tag zu überstehen. „In Venezuela begann mein Weg in die Gosse”, sagt Bollmann rückblickend. Seine Familiengeschichte, das im Umgang mit Alkohol lockere Arbeitsumfeld und eine persönliche Krise – all dies verdichtete sich in seiner Biografie zur Katastrophe. Mit nur 37 Jahren hatte ihn die Sucht fest im Griff.

Menschen mit extremem, ja perfektionistischem Leistungswillen sind unter erkrankten Führungskräften mit einer gewissen Regelmäßigkeit anzutreffen, beobachten Praktiker wie Bernd Schneider, leitender Psychologe der Fachklinik Bad Tönisstein. Geht dieses übermäßige Streben nach Leistung und Anerkennung mit labilem Selbstvertrauen einher, sucht sich der innere Druck ein Ventil. 

„Im Hirn ätzt der Gedanke an die Droge”

Tückischerweise gaukelt die Droge dem abhängigen Manager eine Weile lang vor, es gehe ihm gut. Vor allem Leistungsdrogen wie Kokain blasen das Ego zu wahrer Heldenhaftigkeit auf.

Doch irgendwann setzt die Abwärtsspirale ein. Neben körperlichen Beschwerden – Leberschäden, Magengeschwüren, Kreislaufproblemen, Nierenversagen, Zittern – wirkt die Droge massiv auf die Psyche.

Die äußeren Anzeichen des Niedergangs sind immer dieselben. Der Abhängige isoliert sich, meldet sich häufig krank, wirkt fahrig, unkonzentriert, vergesslich. Sein Umfeld verprellt er mit überraschend wechselnden Gemütszuständen: mal prahlerisch, mal gereizt, mal teilnahmslos. Auch in dieser Phase arbeiten viele Betroffene weiter – noch.

Im Hirn ätzt der Gedanke an die Droge, die Gier ist den ganzen Tag präsent. Schießt mit voller Kraft ins Bewusstsein, wenn der Suchtdruck steigt. Verblasst für kurze Zeit, wenn der Körper die Droge erhält.

Gegen Ende seiner Berufstätigkeit blieb auch Bollmann nichts anderes übrig, als seinen ganzen Tagesablauf um Trinkgelegenheiten herum zu organisieren. Aus längeren Sitzungen ließ er sich „wegen dringender Telefonate” herausrufen. Zum Mittagessen ging er nur noch mit Menschen, von denen er annahm, dass sie sein gehetztes Trinken höflich übersehen würden.

Zweieinhalb Flaschen Wein und ein bis zwei Liter Bier brauchte Bollmann am Tag, um einigermaßen zu funktionieren. Und immer noch redete er sich ein: „Eigentlich habe ich doch alles im Griff.”

Der ganz gewöhnliche, traurige, armselige Selbstbetrug des Abhängigen – Bollmann hielt an ihm noch fest, als seine Welt zusammenbrach.

Am 2. Februar 1991 erhielt er die Kündigung: „Wegen der bekannten Alkoholprobleme”. Im September scheiterte seine zweite Ehe.

Was tat Bollmann? Er flüchtete. Ein alter Freund bot ihm einen Job in Venezuela an. Und so flog er zurück in das Land seiner Albträume – mit 2000 Distraneurin-Entgiftungstabletten gegen Entzugsschmerzen im Koffer, die er bei Ärzten zusammengebettelt hatte.

Natürlich konnte er auch in Südamerika sein Problem nicht mehr verstecken. Als der Freund begriff, welches Wrack er sich in die Firma geholt hatte, warf er Bollmann raus.

Kein Geld, kein Job, schwerst abhängig – es hat nicht viel gefehlt, und Bollmann hätte sich in Caracas zu Tode getrunken.

„Warum er noch lebt? – Zufall”

Eines Abends wählte er im Vollrausch die Telefonnummer seiner Schwester in den USA. Ein Bekannter der Schwester, selbst trockener Alkoholiker, nahm den Hörer ab. „Er hat mein Gestammel gehört und gewusst, es ging um Leben und Tod.”

24 Stunden später fand sich Bollmann in einer Entgiftungseinrichtung in Miami wieder. In einem Schlafsaal mit 28 Betten. Mit Decken und Kopfkissen aus Plastik und Junkies als Nachbarn. „Da lag ich sieben Tage und dachte zum ersten Mal in meinem Leben: Rolf, das war es jetzt. So willst du nicht mehr leben.” Es war die bedingungslose Kapitulation vor der Sucht, die ihm den Ausstieg ermöglichte. „Ich habe akzeptiert, dass ich dem Alkohol gegenüber machtlos bin.”

Ein letztes Mal ertrug Bollmann die Schmerzen der Entgiftung. Er lernte, das Wort „Alkoholiker” auszusprechen und damit sich selbst zu meinen: „Ich schämte mich so sehr, ich habe Rotz und Wasser geheult.”

Seit 20 Jahren ist Rolf Bollmann trocken. Er lebt auf Mallorca im Genesungszentrum Finca Esparanza, das exklusiv nach dem Modell des Betty Ford Centers in den USA arbeitet.

Seine ganze Kraft investiert der Ex-Manager jetzt in sein Lieblingsprojekt.
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