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Im Interview im schweizer "Tagesanzeiger" unter dem Titel "Schlimmer als Heroin" stellt der Journalist Daniel Schreiber seinen Weg aus der Abhängigkeit und sein Verhältnis zur Trunksucht dar. Lesenswert.

Das Original kann hier abgerufen werden.

 

Journalist Daniel Schreiber war abhängig von Bier und Wein, wurde nüchtern, studierte seine Sucht und schrieb ein Buch als Warnung. Ein Gespräch über Alkohol.

 

Herr Schreiber, auch in der Schweiz beginnen nun die Oktoberfeste. Würden Sies als Ex-Alkoholiker am liebsten verbieten?
Aber nein, warum sollte man solche Feste verbieten? Leute haben schon immer getrunken und werden es auch immer tun. In meinem Buch halte ich nur fest, dass ein gewisser Prozentsatz der Menschen davon krank wird – ich eingeschlossen. Und dieser Prozentsatz ist nicht gering. Die deutsche Bundesgesundheitszentrale geht davon aus, dass 27 Prozent von uns an der Schwelle zur Abhängigkeit stehen. Davor verschliessen wir die Augen.

In Ihrem Buch sprechen Sie von «kollektiver Selbsttäuschung».
Ja, wir alle tun so, als sei Alkoholabhängigkeit eine Randerscheinung, dabei ist sie ein Phänomen der Mehrheitsgesellschaft. In Westeuropa trinkt man heute viermal mehr Alkohol als in den Fünfzigerjahren. Alkoholismus ist hier so weit verbreitet wie Diabetes und hat noch schlimmere gesundheitliche Folgen, insbesondere, was Krebserkrankungen betrifft und Krankheiten der Leber und des Herz-Kreislauf-Systems. Es sterben mehr Menschen an einer Leberzirrhose als bei Verkehrsunfällen. Alkohol fordert bei uns inzwischen mehr Todesopfer als jede andere Droge, einschliesslich Tabak und Heroin.

Er ist schlimmer als Tabak und Heroin?
Ja, er richtet grundsätzlich grösseren Schaden an. Zu diesem Schluss kam im vergangenen Jahr eine umfassende Langzeitstudie britischer Mediziner, die gesundheitliche, psychische, soziale und volkswirtschaftliche Schäden verschiedener Drogen untersuchte. Das Trinken war mit grossem Abstand der Schadensspitzenreiter. Es ist einfach sehr weit verbreitet und auch exzessivem Konsum wird, siehe Oktoberfest, sehr viel Verständnis entgegengebracht.

Sie waren viele Jahre alkoholsüchtig. Sind Sie heute clean?
Ich bin seit etwas mehr als drei Jahren nüchtern. Die Art und Weise, wie Sie fragen, impliziert so viele Klischees. Sie erwarten an dieser Stelle Violinen und dramatische Kriegsgeschichten. Aber damit kann ich nur begrenzt dienen. Unser Bild von Abhängigkeit ist immer noch bestimmt vom Trinker, der mit der Flasche auf der Parkbank hockt, der Job und Familie verloren hat. Dieser Alkoholiker ist weitgehend eine Fiktion.

Wie meinen Sie das?
Solche Fälle machen einfach nur einen sehr geringen Prozentsatz von Menschen mit Alkoholproblemen aus. Auch diese ganzen Geschichten von tagtäglich geleerten Whisky- und Wodkaflaschen sind meist völlig übertrieben. Abhängigkeit im Alltag sieht grösstenteils viel normaler und unscheinbarer aus. Ich zum Beispiel habe immer gerne und viel getrunken, aber wenn ich nicht gerade feiern ging, ist es abends meistens bei einer Flasche Wein geblieben. Ich hatte viele Freunde und beruflich einen gewissen Erfolg. Ich konnte mir selbst immer erzählen, dass alles okay war.

Erinnern Sie sich an Ihren letzten Absturz?
Schon wieder so ein Wort. Das hiesige Abhängigkeitsvokabular ist wirklich Teil des Problems… Ich habe das letzte Mal bei einem Pferderennen in Berlin-Hoppegarten getrunken, ein Absturz war das nicht. Ich bin nüchtern geworden, weil ich immer öfter zu viel trank. Irgendwann wurde ich sehr, sehr unglücklich und nichts half gegen dieses Unglück – bis ich eben mit dem Trinken aufhörte.

Ist es eine Frage des Willens, ob man sich vom Alkohol losmachen kann?
Gehen Sie ruhig davon aus, dass alles, was Sie bisher über Alkoholismus dachten, falsch ist. (lacht) Mir ging das auch so, als ich angefangen habe, das Buch zu schreiben. Die Neurobiologie hat schon vor vielen Jahren herausgefunden, dass Abhängigkeit nichts mit Disziplin oder Willensschwäche zu tun hat. Wenn man regelmässig viel trinkt, kommt es zu neurologischen Veränderungen im Gehirn. Je nach Veranlagung geschieht das nach ein paar Monaten oder Jahren, manchmal sogar erst nach Jahrzehnten. Das Gehirn ist dann quasi umprogrammiert, es wird immer für einen entscheiden, dass man trinken muss, auch wenn man das bewusst nicht will. Das ist wie beim Fahrradfahren – das verlernt man auch nicht.

Aber wie macht man sich dann los?
Jeder Trinker hat Momente der Klarheit, in denen er versteht, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Leider sind diese Momente nur flüchtig. Trotzdem muss man sie nutzen. Die Frage ist dann, ob man ehrlich zu sich selbst sein kann und sich Hilfe sucht.

Was ist die beste Strategie gegen Abhängigkeit?
Für Abhängige, bei denen der Missbrauch extreme Formen angenommen hat, ist es nötig, sich in eine Entzugsklinik zu begeben. Für mich und die meisten nüchtern lebenden Menschen, die ich kenne, war das glücklicherweise nicht nötig. Was aber wirklich für die meisten nötig ist, sind Selbsthilfegruppen.

Warum?
Solche Gruppen haben immer noch ein schambesetztes Image, was ziemlich absurd ist, denn sie repräsentieren alle gesellschaftlichen Schichten, vom Arbeitslosen bis zum Manager, und retten weltweit vielen Millionen Menschen das Leben. Wenn man glaubt, dass man ohne Alkohol nicht leben kann, und die Gesellschaft, in der man lebt, das Gleiche propagiert, muss man mit eigenen Augen sehen, dass ein Leben ohne das Trinken sehr wohl möglich ist. Und zwar ein glückliches und erfülltes Leben.

Ein kontrolliertes Trinken ist unmöglich?
Jede seriöse Studie, die es bisher zu diesem Thema gab, hat nachgewiesen, dass dieser Ansatz zum Scheitern verurteilt ist. Wenn man einmal ein Alkoholproblem hat, wird man nie zu einem entspannten Verhältnis zum Alkohol zurückfinden. Das ist, wie gesagt, neurologisch im Gehirn verankert. Ein paar Wochen, Monate oder manchmal sogar Jahre kann man sich zusammenreissen, aber dann fällt man wieder in alte Verhaltensmuster zurück. Wenn man alkoholkrank ist, hat man mittelfristig nur zwei Möglichkeiten: entweder man wird komplett abstinent oder man stirbt an seiner Krankheit.

Ist Ihr Buch mehr Philanthropie oder mehr Therapie?
Weder noch. Vor allem ist es ein Gesprächsangebot – für Menschen, die manchmal denken, sie könnten ein Problem mit Alkohol haben, für ihre Freunde und Angehörigen, für Menschen, die selber nüchtern leben. Mein Ziel war es, ein schönes Buch zu schreiben, ehrlich zu sein, die neuesten neurobiologischen Erkenntnisse zu vermitteln und mit Klischees aufzuräumen. Gar keine einfache Angelegenheit, glauben Sie mir. (Quelle: Tagesanzeiger (Schweiz))